Ulaanbaatar ist keine wirklich schöne Stadt. Auf 1350 Metern über Meer gelegen, verströmt sie vielenorts noch immer das Flair einer grösseren russischen Provinzhauptstadt. Um einen überdimensionierten Platz gruppieren sich in disproportioniertem Sowjet-Stil errichtete Parlaments- und Verwaltungsgebäude. Sogar eine kleine Kopie des Moskauer Mausoleums steht hier, bloss dass darin nicht eine Mumie, sondern die Urnen lokaler Revolutionshelden aufbewahrt werden. Am Stadtrand stehen unübersehbar die grauen Kühltürme von städtischen Heiz- und Stromkraftwerken, wie sie in Russland überall zu finden sind. Abgesehen davon hat sich seit der vor 15 Jahren zu Ende gegangenen Zeit sowjetischer Hegemonie viel verändert im Zentrum eines Landes, das geostrategisch zentral zwischen Russland und China gelegen eine Fläche umfasst, die 48-mal so gross ist wie diejenige der Schweiz und doch nur von 2,5 Mio. Menschen bevölkert wird.
Russisch sprechen heute nur noch ältere Leute. Asien hat den grossen Nachbarn im Norden längst als wichtigste Aussenhandels-Destination verdrängt. 47% aller Exporte gingen im vergangenen Jahr nach China, nur 7% nach Russland. Investoren aus China und Südkorea sind in Ulaanbaatar viel präsenter als russische. Noch ist das Leben in der mongolischen Hauptstadt zwar weit von der Dynamik mancher aufstrebenden chinesischen Stadt entfernt, doch Ansätze eines Wirtschaftsaufschwungs sind überall spürbar. Im vergangenen Jahr ist das Bruttoinlandprodukt (BIP) laut offiziellen Angaben um 5,3% gewachsen; der grösste Teil der Wertschöpfung dürfte in der Hauptstadt erwirtschaftet worden sein. Das hat viele Menschen aus dem Umland angezogen. Rund ein Drittel der mongolischen Bevölkerung wohnt inzwischen in Ulaanbaatar.
Ausserhalb der Hauptstadt sind gut 40% der arbeitenden Bevölkerung nach wie vor in der Landwirtschaft tätig und erwirtschaften dort weniger als 20% des BIP. Die meisten unter ihnen sind Nomaden, die mit ihren Ziegen, Schafen, Pferden und Kamelen durch die weite Gegend ziehen. Abgesehen davon, dass in Stadtnähe neben vielen Jurten inzwischen ein Auto steht, scheint sich das Leben der meisten mongolischen Nomaden seit Dschingis Khans Zeiten kaum verändert zu haben. Die phänomenalen Reiter ernähren sich von angesäuerter Stutenmilch, extrem saurem getrocknetem Quark, dem Fleisch ihrer Tiere und einem aus Milch gebrannten Schnaps. Gemüse kennen sie praktisch nicht. Zukaufen müssen sie lediglich Mehl zur Herstellung von Brot-Produkten. In ihren Jurten-Zelten stehen inzwischen meist Bettgestelle für die Familienältesten, aber Strom oder fliessendes Wasser gibt es nicht. Wichtigste und häufig auch einzige Einnahmequelle ist das Entgelt für die Ziegenwolle, aus der der berühmte Cashmere produziert wird. Eine funktionierende Fleisch- und Milchprodukte-Verarbeitung gibt es praktisch nicht mehr. In den Einkaufszentren der Hauptstadt werden Milchprodukte der grossen Markenproduzenten aus Zentraleuropa oder Russland feilgeboten.
Da in den neunziger Jahren staatliche Sozialleistungen, welche diesen Namen verdienen, nicht existierten - viele Pensionierte bekommen noch heute eine staatliche Rente von bloss 20 $ im Monat -, flüchteten sich manche Industriearbeiter zurück ins Nomadentum. Von 1990 bis 2000 erhöhte sich die Zahl der Hirten nach offiziellen Angaben von 147 500 auf 421 400. Zwar stieg auch die Zahl der gehaltenen Tiere von 25,9 Mio. auf 30,2 Mio., doch lange nicht in demselben Mass. Zudem geriet die traditionelle Viehwirtschaft aus dem Gleichgewicht; vor allem in Zentrumsnähe sind die Weiden, welche nach wie vor als Allgemeingut gelten, stark überweidet und geschädigt.
Obwohl sich die wirtschaftliche Entwicklung der Mongolei heute mit einem Bruttosozialprodukt pro Kopf von unvorstellbar geringen 450 $ im Jahr auf ähnlichem Niveau wie in Vietnam oder dem Sudan befindet, wirken die Aussichten für eine Gesundung wesentlich besser. Die sowjetische Hegemonie hat nicht nur Probleme, sondern auch eine Bevölkerung hinterlassen, die zu 98% lesen und schreiben kann. Zumindest die Städte des Landes verfügen über eine einigermassen funktionierende Infrastruktur, welche auch den durchschnittlichen Januar-Temperaturen von in Ulaanbaatar beispielsweise -25 Grad Celsius gewachsen ist. Und mindestens drei Wirtschaftssektoren verfügen über internationales Potenzial: die Textil- und Cashmere-Wolle-Industrie, der Tourismus und vor allem der Bergbausektor.
Die Mongolei ist heute weltweit der zweitgrösste Produzent von Cashmere-Wolle. In der vorläufig noch staatlichen Gobi-Fabrik nähen 1600 Angestellte Cashmere-Kleider, die zu 85% in die ganze Welt exportiert werden, gut ein Drittel davon nach Deutschland. Allerdings hat das Unternehmen in letzter Zeit zunehmend Probleme, gegen die mit staatlichen Förderprogrammen unterstützte Konkurrenz aus China zu bestehen.
Der Bergbausektor schliesslich generiert bereits heute über die Hälfte aller Exporteinnahmen. In Erdenet im Nordwesten des Landes arbeitet seit 1973 eine der zehn grössten Kupferminen der Welt. Schnell gewachsen ist in den letzten Jahren der Goldbergbau, der bereits einen Fünftel aller Ausfuhren stellt. Die Mongolei setzt allerdings darauf, dass der Rohstoffsektor bereits in den nächsten Jahren viel grössere Dimensionen annehmen wird: Das Land ist reich an noch nicht erschlossenen Kupfer-, Gold- und Kohle-Vorkommen; diese Güter können leicht in das Rohstoff-hungrige benachbarte China verkauft werden. Sogar Erdöl ist in der Wüste Gobi entdeckt worden. Seit sich die jahrhundertelang abgeschottete Mongolei ausländischen Investoren gegenüber geöffnet hat, sind bereits 1 Mrd. $ an Direktinvestitionen ins Land geflossen. Allein im Jahr 2003 sollen Ausländer 157 Mio. $ in die Rohstoff-Erschliessung investiert haben. Der bisher grösste Investor, die kanadischen Ivanhoe Mines, will in drei Jahren in der Wüste Gobi eine neue Kupfermine in Betrieb nehmen, deren Produktion schon bald diejenige von Erdenet deutlich übertreffen soll.
Derweil geben sich die Vertreter internationaler Bergbaufirmen im Büro von Herrn Otgonbat die Klinke in die Hand. Der Vizedirektor der staatlichen Investitions- und Handelsagentur denkt dabei bereits weiter: Für ihn darf sich die Mongolei nicht damit begnügen, Rohstofflieferant zu sein, sondern sollte eine auf Wissen basierende, ertragsstarke Wirtschaft nach dem Vorbild Singapurs aufbauen. Mit dem Steuersegen aus dem Rohstoffgeschäft möchte Otgonbat möglichst viele junge Mongolen zur Ausbildung an Top-Universitäten ins Ausland schicken. Für die Zukunft des Landes soll ein Weg von der Nomaden-Jurte nach Harvard führen.
In der Mongolei treffen Jahrhunderte aufeinander wie kaum anderswo.
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